Kölner Stadt-Anzeiger/ Leverkusener Anzeiger vom 06.12.2007 » Zurück

Leverkusen

"Es gibt keine Vorteile"

Boris Relja (18) und Christian Papendick (19)
lehnen die Gesamtschule generell ab


Die beiden Aktivisten der Leverkusener Schüler-Union sehen das Prinzip der Gesamtschule im dreigliedrigen Schulsystem verwirklicht.

JUNGE ZEITEN:
Sind Sie der Meinung, dass generell der Bedarf für eine dritte Gesamtschule in Leverkusen besteht?

BORIS RELJA:
Nein. Zum einen ist die Anzahl der Schüler, die an den Gesamtschulen abgelehnt wurden, nicht so hoch, dass die Entwicklung einer dritten Gesamtschule Sinn machen würde. Zum anderen lehnen wir die Gesamtschule generell ab, weil das Prinzip der Gesamtschule im dreigliedrigen Schulsystem verwirklicht ist. Die Leistungen der starken Schüler werden an den Gesamtschulen herabgesetzt, weil sich das Ganze an den schwächeren Schülern orientiert.

CHRISTIAN PAPENDICK:
Ich denke, dass die 112 abgelehnten Schüler kein Grund für eine neue Gesamtschule sind. Zudem wurden die abgelehnten Schüler größtenteils als "hauptschulgeeignet" eingestuft und sprechen somit eher für eine weitere Hauptschule. Eine dritte Gesamtschule würde bedeuten, dass anderen Schulen Schüler abgezogen werden. Außerdem sind die 112 Schüler an anderen Schulen untergekommen und haben so zusätzlich die Hauptschulen gestärkt.

Ist das gut oder schlecht?

CHRISTIAN PAPENDICK:
Das sei dahingestellt. Generell ist es in Gesamtschulen so, dass Lehrer sich eher an den schwächeren Schülern orientieren. Die Differenzierungen in den Erweiterungs- bzw. Grundkursen ist nicht streng genug. Die Leistungen der schlechteren Schüler werden angehoben und sitzen bleiben ist "fast unmöglich". Auch in Erweiterungskursen, so habe ich es erlebt, sitzen Schüler, die eigentlich in Grundkurse gehören. Durchschnittlichen Schülern wird von Lehrern das Gefühl vermittelt, eine drei auf der Gesamtschule sei ebenso gut wie eine drei auf dem Gymnasium. Mein Bruder, der eine Hauptschule besucht, hat bereits in der sechsten und siebten Klasse Stoff abgehandelt, den ich auf der Gesamtschule in der achten Klasse noch nicht hatte.

Welche Vorteile könnte die dritte Gesamtschule den Leverkusener Schülern und Schülerinnen bieten?

PAPENDICK:
Gibt es Vorteile?

RELJA:
Es gibt keine Vorteile, aus den schon erklärten Gründen. Alle Schüler der Gesamtschule können ihren Abschluss auch auf einer Schule der drei anderen Schulformen machen. Besonders aus diesem Grund brauchen wir eigentlich gar keine Gesamtschule.

PAPENDICK:
Bundesländer mit anteilig weniger Gesamtschulen wie zum Beispiel Bayern oder Thüringen führen die Pisa-Studie in Deutschland an. Während in Bundesländern wie NRW, die einen hohen Anteil an Gesamtschulen haben, die Pisa-Studie schlecht ausfällt.

Eva Lux (SPD) erklärte, einer der Vorteile der Gesamtschule sei es, dass sie Bildungswege nicht frühzeitig verbaue, weil dort alle Schulabschlüsse offen stünden. Was halten Sie von dieser Aussage?

PAPENDICK:
Auch auf der Hauptschule ist es möglich einen Realschulabschluss zu machen. Ebenso ist es möglich nach zwei oder drei Jahren von der Hauptschule auf eine höhere Schule zu wechseln. Genauso wie eben auch Schüler vom Gymnasium auf die Realschule absteigen können.

RELJA:
Sprich: Wir haben ein durchlässiges Schulsystem.

Laut Guido Sattler, dem Direktor der Rheindorfer Gesamtschule, sind 50 Prozent der zukünftigen Abiturienten am Ende der vierten Klasse als "hauptschulgeeignet" eingestuft worden. Ist es Lehrern immer möglich, ihre Schüler nach der vierten Klasse gerecht einzustufen?

RELJA:
Es gibt keine absolute Gerechtigkeit. Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Ich bin aber der Auffassung, dass Lehrer kompetent genug sind, um eine weitgehend angemessene Entscheidung zu treffen. Weiterhin sind Viertklässler alt genug, so dass man sie richtig einschätzen kann.

PAPENDICK:
Wenn Herr Sattler dieser Meinung ist, warum wurden dann fast ausschließlich Schüler an seiner Gesamtschule abgelehnt? Ich bin generell nicht der Meinung, dass Lehrer hundertprozentig in der Lage sind, das gerecht zu beurteilen. Aber sie verfügen über einen gewissen Erfahrungsschatz, auch wenn dies nicht für alle Lehrer verbindlich ist. An einer Verbesserung dieser Bewertung wird aber auf Landesebene gearbeitet.

Hat der Beschluss der dritten Gesamtschule ihrer Meinung nach auch Nachteile für die Leverkusener Schülerschaft?

RELJA:
Für leistungsstarke Schüler gibt es den Nachteil, dass schwächere Schüler mitkommen müssen. So wird der Unterrichtsstoff oft auf niedrigem Niveau behandelt. Dies ist vor allem ein Nachteil für die Schüler, die eigentlich auch ein Gymnasium besuchen könnten. Auf der Gesamtschule sollen schwächere Schüler von den Stärkeren profitieren. Das ist aber nicht die Realität und trifft höchstens in Einzelfällen zu.

PAPENDICK: Zwei Gesamtschulen, die die Unterrichtsausfallstatistik anführen in Leverkusen sollten genug sein. Die Schülerzahlen gehen zurück. Der Neubau einer zusätzlichen Gesamtschule ist sinnlos. Die Gesamtschule wird aus ideologischen Gründen für politische Zwecke instrumentalisiert. Nach Auffassung der SPD sind alle Menschen gleich. Das stimmt auch in Bezug auf das Gesetz und den Wert des Menschen, aber in ihren Neigungen und in ihrer Leistungsfähigkeit sind die Schüler unterschiedlich, deshalb brauchen wir ein differenziertes Schulsystem und keine Einheitsschule.

Laut ihrer Aussage schneiden Gesamtschulen grundsätzlich schlechter ab. Ist ihrer Meinung nach deswegen ein Abiturient der Gesamtschule weniger gut ausgebildet als der eines Gymnasiums?

PAPENDICK:
Auf jeden Fall. Sonst würden Abiturienten, die die elfte Klasse auf dem Gymnasium nicht schaffen, diese nicht auf der Gesamtschule fast ohne Probleme schaffen.

RELJA:
Wir haben seit kurzem das Zentralabitur und könnten davon ausgehen, dass Schüler der Gesamtschule bei Unterrichtsausfall den Stoff selbstständig nachholen und am Ende dieselben Leistungen erzielen wie Gymnasiasten. Dies ist aber nicht so, weil die Ansprüche auf der Gesamtschule geringer sind und der Unterrichtsausfall höher ist. Trotz des Zentralabiturs sind Gesamtschüler mit Abitur weniger gut ausgebildet als Gymnasiasten mit demselben Abschluss.

PAPENDICK:
Viele Firmen bevorzugen Haupt- und Realschüler, weil diese realistischere Berufsvorstellungen und eine höhere Motivation als Gesamtschüler mitbringen. Auch die Mischung aus theoretischen und praktischen Erfahrungen ist bei diesen Schülern besser.

RELJA:
Es gibt aber auch Firmen, die Abiturienten bevorzugen, wie zum Beispiel die Polizei. Ob das den anderen Schulformen gegenüber gerecht ist sei dahingestellt. Hier ist die Aufnahmeprüfung ohnehin schon schwierig genug.

Sie sagen, dass sie es vorziehen würden in die bestehenden Gesamtschulen zu investieren anstatt Geld für eine neue auszugeben? Was würden sie verbessern?

PAPENDICK: Der Unterrichtsausfall muss auf jeden Fall verringert werden. Nicht unbedingt durch zusätzliche Lehrer, aber zum Beispiel durch effizienteres Arbeiten. Außerdem muss der Unterricht qualitativ hochwertiger werden, in Verbindung mit einer stärkeren Differenzierung in der Leistungsfähigkeit der Schüler. Der sowieso schon üppige Etat sollte besser genutzt werden. Lehrer müssten besser fortgebildet werden im Umgang mit den zum Teil frechen und lernunwilligen Schülern. Ebenso sollten die Unterrichtsinhalte interessanter gestaltet werden.

Des Weiteren haben sie erklärt, dass eine massive Umstrukturierung der Hauptschulen nötig sei. Wie könnte so eine Umstrukturierung aussehen?

PAPENDICK:
Als erstes muss der generelle Irrglaube der Eltern, die Hauptschule sei eine perspektivlose Restschule, beseitigt werden. Man muss den Eltern glaubhaft vermitteln, dass dies, auf Grund von gegebenen Tatsachen, nicht so ist. Es wird bereits daran gearbeitet Hauptschulen in Ganztagsschulen umzuwandeln. Somit wäre dieser Vorteil der Gesamtschule auch nicht mehr vorhanden.

RELJA:
Es sollte mehr praxisorientierten Unterricht geben und längere Betriebspraktika, vor allem sollte dies in Zusammenarbeit mit den Unternehmen geschehen. Die Differenzierung sollte stärker werden und mehr den Neigungen der Schüler entsprechen. Ich persönlich fordere, dass Autoritäten gestärkt werden. Krasse Beispiele wie die Rütli-Schule zeigen, dass Lehrer nicht respektiert werden. Das ist zwar ein etwas überspitztes Beispiel, weil es genügend Hauptschulen gibt, die nicht von so einer starken Asozialität betroffen sind, aber dennoch fehlt oft genug der Respekt vor den Lehrern. Generell sollten auch die Grundkompetenzen in Fächern wie Mathematik, Englisch und Deutsch gestärkt werden. Auch der Umgang mit elektronischen Medien sollte gefördert werden, da dies im Rahmen der Globalisierung gefordert ist.

PAPENDICK:
Zusatzqualifikationen sehen gut auf dem Zeugnis aus und erhöhen die Chance auf einen Ausbildungsplatz.

RELJA:
Man könnte hinzufügen, dass die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern verbessert werden sollte, um Schwächen der Schüler frühzeitig zu erkennen und nach Möglichkeit zu beseitigen.

PAPENDICK:
Dies sollte allerdings in allen Schulformen gewährleistet sein.

Wenn sie heute noch einmal in der vierten Klasse wären und eine Hauptschulempfehlung hätten, würden sie ihren Hauptschulabschluss lieber auf einer Haupt- oder auf einer Gesamtschule machen?

PAPENDICK:
Generell wusste ich in der vierten Klasse noch nicht einmal, was ein durchlässiges Schulsystem überhaupt ist. In dem Alter entscheidet man nach Sympathien oder nach dem, was die Eltern sagen. Wenn ich damals, das Wissen von heute gehabt hätte, hätte ich die Hauptschule besucht, weil dort die Bildung einfach besser ist. Statistisch gesehen schneiden die Gesamtschulen in Leverkusen in Bezug auf den Bildungsstand schlechter ab als alle anderen Schulformen.

RELJA:
Wenn ich heute in der vierten Klasse wäre, würde ich mich mit meinem heutigen Wissen dafür entscheiden auf eine Hauptschule zu gehen. Aus denselben Gründen wie Herr Papendick, und weil der Unterrichtsausfall hier geringer ist.

PAPENDICK:
Außerdem ist die Vermittlung des Unterrichtstoffes auf der Hauptschule auch besser.

Das Gespräch führte Steffi Breitbarth


Quelle: Leverkusener Anzeiger

06.12.2007: Junge Zeiten [pdf]